Legende Bugatti EB110 – Der erste Supersportwagen der Moderne
Molsheim
Schon der Name des neuen Modells EB110 ist eine Verbeugung vor Bugatti-Gründer Ettore Bugatti. EB steht für Ettore Bugatti, 110 für seinen 110. Geburtstag. Ausgedacht hat sich das Ende der 1980er-Jahren ein Italiener. Romano Artioli ist seit Jahrzehnten ein großer Sammler von Bugatti-Fahrzeugen. Zugleich arbeitet er als erfolgreicher Automobilimporteur und -händler im Norden Italiens, vor allem für Ferrari und zwei japanische Marken. Mitte der 1980er-Jahre träumt er von dem ultimativen Sportwagen. Schön, kompromisslos und sehr schnell soll er sein. Doch kein existierendes Modell erfüllt seine Erwartungen. Also träumt er von einem eigenen Sportwagen. Einem neuen Bugatti, erstmals seit 1956.
Artiolis Leidenschaft zu Bugatti ist so groß, dass er die legendäre französische Automobilmarke wiederbelebt. 1987 kauft er die Markenrechte und wird Vorsitzender der Bugatti Automobili S.p.A. Ende des Jahres findet er einen passenden Produktionsstandort. Nicht in Frankreich, sondern in der Emilia Romagna, in der Nähe von Modena in Campogalliano. Der Standort bietet einen großen Vorteil: Er liegt im Einzugsgebiet der großen italienischen Sportwagenmarken wie De Tomaso, Ferrari, Maserati und Lamborghini. Somit kann Artioli leichter erfahrene Mitarbeiter akquirieren. Er heuert in der Branche weltweit bekannte Konstrukteure, Designer, Entwickler und Monteure an. So stammen die ersten Designentwürfe des neuen Autos aus der Feder des Designers von Lamborghini Miura und Countach.
Die Fabrik ist die modernste ihrer Zeit, mit einigen bemerkenswerten Details: Ganz Bugatti-Fan lässt er im Speisesaal die Originaleingangstür aus der ehemaligen Bugatti-Manufaktur in Molsheim montieren. Und auch sonst ist sich Artioli der reichen Bugatti-Geschichte bewusst: Das Werk eröffnet er am 15. September 1990, dem 109. Geburtstag Ettore Bugattis. Zu sehen gibt es da zwar noch keinen modernen Supersportwagen, dafür aber 77 ausgewählte historische Bugatti-Modelle.
Konsequenter Leichtbau in allen Bauteilen
Bei der Neuinterpretation spart er nicht. Ganz nach dem Motto Ettore Bugattis will er nur das Beste für sein Fahrzeug. Der EB110 kann auf keinem Vorgänger aufbauen, sondern entsteht auf einem weißen Blatt Papier. Das lediglich 125 Kilogramm leichte Monocoque besteht erstmals bei einem Serienauto aus Carbon, hergestellt vom französischen Raumfahrtunternehmen Aerospatiale. Für die Karosserie kommen Aluminium, Carbon und aramidfaserverstärkter Kunststoff zum Einsatz, die Räder werden aus Magnesium gegossen, jede Schraube ist aus Titan. Als Antrieb für den Supersportwagen wählt Artioli einen 3,5-Liter-V12-Mittelmotor, dem damaligen Formel-1-Reglement entsprechend, mit vier Turboladern und einer Höchstdrehzahl 8.250 U/min. Zwei Nockenwellen pro Zylinderbank und fünf Ventile pro Brennraum, insgesamt 60 Ventile, sorgen für einen schnellen Gaswechsel. Die vier Turbos arbeiten mit einem Ladedruck zwischen 1,05 und 1,2 bar und minimieren das sonst in den Jahren gefürchtete Turboloch auf ein fast nicht vorhandenes Maß. Bei voll geöffneten Drosselkappen beschleunigt der EB110 konstant wie am Gummiband. 15 Liter Öl in der Trockensumpfschmierung sorgen für ausreichend Motorschmierung.
Je nach Modell und Ausbaustufe leistet das Triebwerk zwischen 560 und 610 PS, die Kraft wird permanent über alle vier Räder übertragen. Dafür sorgen ein manuelles Sechsgang-Getriebe, Allrad-Visco-Sperre, Sperrdifferenzial hinten und eine Antriebsmomentenverteilung von 27:73 Prozent. Auf den 18-Zoll-Magnesiumgussrädern sitzen vorne Reifen in der Dimension 245/40 ZR18 und hinten 325/30 ZR18, dazwischen Brembo-Bremsen.
Der EB110 knackt den Hochgeschwindigkeitsrekord
Das alles war Anfang der 1990er-Jahre eine Sensation. Einen V12 mit vier Turbos mit Ladeluftkühlung, Allrad und zwei Differenzialen gibt es sonst nicht. Der EB110 fährt in einer neuen Liga, ist eine epochale Entwicklung und der Konkurrenz um Dekaden voraus. Die Kombination aus Carbon-Monocoque, Allradantrieb und vier Turboladern wird zur DNA moderner Bugatti-Hypersportwagen. Von 0 auf 100 km/h sprintet der EB110 in bis zu 3,26 Sekunden und ist damit das schnellste Serienauto seiner Zeit. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 351 km/h. Weltrekord für einen Seriensportwagen. Auch nach fast 30 Jahren zählt der EB110 zu den schnellsten Autos der Welt. Dabei fährt sich der EB110 dank des Allradantriebs gutmütig und dank des serienmäßigen ABS sicher. Bugatti katapultiert sich mit der Neuschöpfung uneinholbar an die Spitze des Automobilbaus. Dort, wo Romano Artioli und Ettore Bugatti die Marke schon immer gesehen haben.
Dazu bietet der EB110 durchaus Komfort: Klimaanlage, elektrische Sitzverstellung, Servolenkung, Zentralverriegelung und eine hochwertige Soundanlage zählen zur Serienausstattung. Im Innenraum kommen die edelsten Materialien der Welt zum Einsatz, unter anderem Leder vom italienischen Möbelhersteller Poltrona Frau. Die Türen schwingen beim Öffnen elegant nach oben, ein automatisch ausfahrbarer Heckspoiler erhöht den Anpressdruck bei höheren Geschwindigkeiten, eine sich automatisch anwinkelnde C-Säule verbessert die Aerodynamik und Kühlung des Motors.
Obwohl der EB110 in Handarbeit in Campogalliano entsteht, feiert Bugatti sein erstes Neufahrzeug am 15. September 1991 in Frankreich – am 110. Geburtstag Ettore Bugattis. Zur Präsentation in Paris kommen rund 2.000 geladene Gäste, drei EB110 fahren über den Champs-Elysees. Die ersten Bestellungen für den Supersportwagen gehen ein – es sieht gut aus. Bugatti bietet den EB110 in den Modellvarianten EB110 GT (Gran Turismo) sowie wenig später die leichtere und stärkere Variante EB110 S (Supersport, später SS). Mit dem EB110 stellt Bugatti vier Weltrekorde auf, unter anderem den für die schnellste Beschleunigung, den schnellsten Seriensportwagen, schnellster Sportwagen mit Gas betrieben und schnellstes Serienauto auf Eis.
Falscher Zeitpunkt für Supersportwagen
Doch der Markt für Supersportwagen bricht zur gleichen Zeit dramatisch ein, die Nachfrage sinkt drastisch. Daneben investiert Artioli in das Automobilunternehmen Lotus und häuft hohe Verbindlichkeiten an. Als er Probleme mit Lieferanten bekommt und sie nicht mehr bezahlen kann, wird die Produktionsstätte in Italien geschlossen. Bis 1995 entstehen in der Manufaktur in Campogalliano nur rund 96 EB110 GT und 32 EB110 Super Sport, insgesamt etwa 128 Fahrzeuge, davon 2 offizielle Werksrennwagen mit 670 PS. Die starten unter anderem beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans, in Suzuka und in der amerikanischen IMSA-Serie unter anderem beim 24-Stunden-Rennen in Daytona. Es waren die letzten Autos, die die Fabrik verlassen. Insgesamt zu wenig.
Nach rund zwei Jahren ist das Konkursverfahren im September 1997 beendet. „Die Verwirklichung eines solchen Traums scheint einfach und entpuppt sich in der Praxis als Verrücktheit“, sagte Roman Artioli einmal. Doch der Mythos Bugatti schläft nicht lange.
Ein Jahr später übernimmt der Volkswagen-Konzern die Markenrechte und verhilft in den Folgejahren dem Unternehmen zu einem Neustart. 1998 kommt Bugatti wieder zurück ins französische Molsheim. Dorthin, wo 1909 Ettore Bugatti sein erstes Auto unter eigenem Namen selbst baute. Seitdem entstehen in der elsässischen Manufaktur die einzigartigen Hypersportwagen Chiron, Chiron Sport und Divo¹. “Romano Artioli ist mit dem EB110 ein großartiger Sportwagen gelungen. Dank seiner Initiative und durch seine Mühen wurde Bugatti in der Moderne wiederbelebt“, sagt Stephan Winkelmann, Präsident von Bugatti. Das gilt es zu feiern. Der EB110 ist zwar der einzige Bugatti, der nicht in Molsheim gebaut wurde, und dennoch ist er ein echter Bugatti – zu 110 Prozent.