Romano Artioli – Visionär und Retter von Bugatti – wird 90
Molsheim
1952 beobachtete ein 20 Jahre junger Techniker mit Befremden, wie die Produktion von Bugatti im französischen Molsheim eingestellt wurde. Drei Jahrzehnte später, im Alter von 59 Jahren, legte dieser Techniker – inzwischen ein erfolgreicher Unternehmer – den Grundstein für die moderne Marke Bugatti. Dieser Mann war Romano Artioli, der heute seinen 90. Geburtstag feiert.
Romano Artioli war schon immer dazu bestimmt, eine Rolle in der Automobilindustrie zu spielen. Schon als Kind fesselte ihn ein Buch über den Erwerb des Führerscheins so sehr, dass er es immer wieder von vorne bis hinten las. Er studierte Maschinenbau und reparierte anschließend Autos, bis er schließlich ein Einzelhandels- für den Verkauf und Importgeschäft für Automobile gründete. Mitte der 1980er-Jahre war dieses Unternehmen so erfolgreich, dass Romano Gespräche mit der französischen Regierung über den Kauf der Marke Bugatti aufnehmen konnte. 1987 wurde sein Traum Wirklichkeit.
Romano erkannte die Bedeutung von Molsheim als symbolische Heimat der Marke, an dem bis heute das Herz von Bugatti schlägt. Aber er erkannte schnell, dass sich die Ingenieure und Designer, die er Bugatti benötigte, um etwas unvergleichliches zu schaffen, nicht mehr in der Region lebten und erbeiteten. Die Wiedergeburt von Bugatti musste durch ein Fahrzeug geprägt sein, welches dem Ethos des Unternehmensgründers treu blieb: „Wenn es vergleichbar ist, ist es nicht mehr Bugatti“. Romano brauchte daher die brillantesten Ingenieure, die führenden technischen Köpfe, die besten Produktionsstätten und die visionärsten Designer – und vieles davon fand er in Modena in Italien.
In der Nachbarschaft von Ferrari, Maserati, De Tomaso und Lamborghini entstand in den folgenden Jahren mit intensiver Planung und Aufwand auf 240.000 Quadratmetern die modernste Automanufaktur der Welt – mit Verwaltungsgebäude, Designstudio, Motor- und Testentwicklung, Produktionshallen, Teststrecke, Fahrzeugausstellung und einer stilvollen Kantine.
Die Gebäude waren sehr beeindruckend, aber Romano wusste, dass das familiäre Gemeinschaftsgefühl immer entscheidend für den Erfolg von Bugatti war. Er stellte ein eingeschworenes Team von Mitarbeitern zusammen, das von einigen der besten Ingenieure und Designer ihrer Generation geleitet wurde. Dieses Team hätte er in Molsheim nicht zusammenstellen können. Er wollte das enorme Gefühl von Stolz und Gemeinschaft wieder aufleben lassen, das Ettore Bugatti als „Le Patron“ in Frankreich etabliert hatte.
Diese brillanten Köpfen Nicola Materazzi, Marcello Gandini, Giampaolo Benedini und – natürlich – Romano Artioli entwickelten den EB110, den besten und schnellsten Supersportwagen der Welt. Der EB110 verfügte über das erste in Serie gefertigte Karbonchassis, Allradantrieb, vier Turbolader und einen 3,5-Liter-V12-Motor mit fünf Ventilen pro Zylinder und 560 PS. Es gab bisher nichts dergleichen auf der Straße.
Der zum 110. Geburtstag von Ettore Bugatti vorgestellte Wagen war sofort eine große Sensation. Das Design war so zukunftsweisend, dass sich einige Kommentatoren zunächst über die Formgebung und die Proportionen des EB110 wunderten. Aber der EB110 sollte seine Anerkennung in der Designwelt und in der weltweiten Automobilindustrie finden.
„Romano Artioli liebt die Marke Bugatti, aber vor allem versteht er sie sehr genau. Als er Bugatti kaufte, wusste er, dass es nicht wirklich im Geiste des Gründers wäre, einfach ein Fahrzeug zu bauen, das den Rest der Branche kopierte. Während alle anderen Rennwagen für die Straße bauten, wollte er den ultimativen GT entwickeln. Und das mit Technologien, die bisher noch nie in einem Straßenwagen zu finden waren, und einem zeitlos eleganten Design. Das war in jeder Hinsicht ein wahrer Bugatti“, so Bugatti-Chefdesigner Achim Anscheidt.
Der EB110 begeisterte sofort Enthusiasten jeglicher Couleur. Das Fahrzeug war eine Automobilikone. Er wurde zum Traum kleiner Kinder, die zu hoffen wagten, und zum Wunsch von Kennern, die Teil des neuen Bugatti-Erbes sein wollten. Vielleicht der größte Fan des EB110 war damals Michael Schumacher, der 1994 seinen gelben EB110 SS kaufte.
Doch obwohl der EB110 als wahrhaft futuristische Automobilkreation gefeiert wurde, konnte Romanos Wunderwerk der aufkommenden globalen Wirtschaftskrise nicht trotzen. Trotz seiner zahlreichen Fans und seiner unbestrittenen Großartigkeit war der EB110, wie so viele andere Dinge in dieser Zeit, von der scharfen und schmerzhaften Rezession betroffen. Am 23. September 1995 musste Romano Insolvenz anmelden.
Der ursprüngliche EB110 lieferte Jahrzehnte später die Inspiration für einen völlig neuen limitierten Bugatti, den Centodieci¹. Mit dem 2019 vorgestellten Hypersportwagen schuf das Designteam eine moderne Neuinterpretation dieses bedeutenden Moments in der Geschichte von Bugatti. Romano, der zweite Inhaber der Marke, sorgte nicht nur für die Wiedergeburt der Marke Bugatti, sondern schuf mit dem EB110 auch den ersten Hypersportwagen der Welt. Nur zehn Exemplare des vom EB110 inspirierten und hochexklusiven Bugatti Centodieci wurden im Molsheimer Atelier in Handarbeit gefertigt und das letzte Fahrzeug steht kurz vor der Auslieferung an seinen Besitzer.
Dieses familiäre Gemeinschaftsgefühl, das Romano so sorgfältig in sein Unternehmen integriert hat, ist nie verblasst. Während der Entwicklungsphase für den Bugatti Centodieci, die visuelle Hommage an den EB110, sprach das Team von Bugatti mit einigen der ursprünglichen Entwickler des Fahrzeugs und viele erzählten mit Tränen in den Augen von ihren Erinnerungen. In der „Fabbrica Blu“ liegen bis heute Werkzeuge auf Werkbänken und an den Wänden hängen Kalender. Der Gedanke, dass sie diesen Ort zum letzten Mal verlassen würden, war niemand gekommen, so stark war der Glaube an das Unternehmen und die Vision.
„Wir bei Bugatti haben Romano heute viel zu verdanken. Er ist ein so warmherziger Mann mit einer großen Leidenschaft für unsere Marke. Mit seiner Großzügigkeit bei der Wiederbelebung von Bugatti in den 80er-Jahren und der Definition einer Vision für die moderne Zeit legte er die Grundlagen für die Schaffung des Veyron und für den heutigen Charakter von Bugatti“, so Bugatti-Chefdesigner Achim Anscheidt weiter.
Heute ist die anhaltende Bedeutung von Romano Artiolis EB110 klar erkennbar. Seine Erfindung ist nach wie vor weltweit ein sehr begehrtes Sammlerstück, welche bei den angesehensten Auktionen der Welt immer wieder Rekordpreise erzielt. Zuletzt bei einer Auktion von Gooding & Company in Pebble Beach wurde ein EB110 Super Sport für den Rekordpreis von 3,16 Mio. US-Dollar verkauft.