Bugatti Veyron 16.4 in 0,4 Sekunden auf 113 Grad
Molsheim
Anspruchsvolle Lösungen für extreme Strömungsverhältnisse Erstes intelligentes Aerodynamik-Management im Automobilbau


Der über 400 km/h schnelle Bugatti 16.4 Veyron durchläuft die letzten Phasen technischer Feinabstimmung. Ein zentrales Thema dabei: Die Unterstützung fahrdynamischer Anforderungen durch ein komplexes Regelwerk aerodynamischer Assistenzsysteme.
Niemals zuvor in der Automobilgeschichte galt es, einen Sportwagen für den öffentlichen Straßenverkehr abzustimmen, der in einem derart breiten Geschwindigkeitsspektrum gleichermaßen problemlos wie sicher zu handhaben ist. Das Team um Bugatti-Entwicklungschef Dr. Wolfgang Schreiber steht vor der großen Herausforderung, die Balance herzustellen zwischen im wesentlich drei aerodynamischen Anforderungsprofilen. Zum einen soll die Karosserie möglichst geringen Luftwiderstand bieten, um auch oberhalb von 200 km/h noch extreme Beschleunigungswerte zu erlauben und die Höchstgeschwindigkeit jenseits von 400 km/h zu erreichen. Zum anderen müssen die Abtriebverhältnisse an Vorder- und Hinterachse über den gesamten Geschwindigkeitsbereich so ausgeklügelt sein, dass der schnellste Sportwagen der Welt immer wie das sprichwörtliche Brett auf der Strasse liegt. Und letztlich wird erwartet, dass alle unter der Aluminiumkarosserie extrem eng gepackten Hochleistungsaggregate zur Kühlung bei jeder Geschwindigkeit optimal angeströmt werden. Dr. Schreiber: „Das Aerodynamik-Management des Veyron ist eine faszinierende High-Tech Lösung, die im zeitgenössischen Automobilbau ihresgleichen sucht.“
Herzstück des Regelwerks ist ein Computer gesteuertes zentrales Hydrauliksystem. Es reguliert die Bodenfreiheit des allradgetriebenen Bugatti Veyron gegenüber der Strasse, wobei drei geschwindigkeits- abhängige Niveaus vorgesehen sind. Zur Erhöhung der Abtriebkräfte vorn ist im Unterboden auf beiden Seiten jeweils eine Diffusorklappe installiert. Beide Klappen öffnen und schließen mit Hilfe von zwei Hydraulikzylindern. Die Abtriebskräfte hinten werden durch Diffusoren im Unterboden und über einen Heckflügel reguliert.
Bei alltäglicher Fahrweise im Stadtverkehr, über Landstrassen und auf Autobahnen betragen die Abstände zur Strasse in Höhe der Vorder- und Hinterachse 125 Millimeter. Dabei stehen die Diffusorklappen offen und Heckflügel wie Spoiler bleiben karosseriebündig abgelegt. Einzige Ausnahme: Überschreitet die Abgastemperatur des Mittelmotors einen kritischen Wert, öffnet der darüber liegende Flügel einen Spalt. Diese „Cool-down“-Position wird automatisch eingenommen. Das Normalfahrniveau indes bleibt bis zur Geschwindigkeit von 220 km/h unverändert.
Oberhalb 220 km/h wird die Bugatti-Karosserie automatisch auf 80 Millimeter Bodenfreiheit vorn und 95 Millimeter hinten abgesenkt. Die Diffusorklappen bleiben weiterhin offen und Heckflügel wie Spoiler fahren selbsttätig aus. In dieser sogenannten „Handlingstellung“ werden vorn und hinten am Fahrzeug höhere Abtriebskräfte aufgebaut. Dr. Schreiber: „Es ist unser Ziel, die für den Bugatti Veyron ideale Achslastverteilung von 45 : 55 Prozent (vorn/hinten) auch bei höheren Geschwindigkeiten zu erhalten.“ Genau genommen bis 375 km/h, wenn der Supersportwagen mit etwa 350 Kilo Abtrieb auf den Asphalt gepresst wird. Fällt die Geschwindigkeit unter 140 km/h, fährt das Leitwerk zurück in seine Ruheposition.
Dem Fahrer steht es frei, auch unterhalb von 220 km/h mit erhöhtem Abtrieb zu fahren. Über eine Taste in der Mittelkonsole kann er jederzeit ins Handling-Setting wechseln. Erst auf erneuten Tastendruck regelt das System wieder automatisch.
Die Entscheidung, den Bugatti Veyron in die Sphären oberhalb von 375 km/h zu fahren, fällt der Lenker nach eingehender Prüfung der Sicherheitslage. Mit einem zweiten Schlüssel im Zylinder links neben dem Pilotensitz erteilt er die Zugangsberechtigung für die Endgeschwindigkeit jenseits von 400 km/h. Im Cockpit-Display erscheint daraufhin der Hinweis „Topspeed“. Zur Sicherheit gilt es nun, eine Checkliste abzuarbeiten. Beispielsweise muss der Reifendruck kontrolliert werden. Im „Topspeed“-Setting kauert die Karosserie vorn nur noch 65 Millimeter überm Asphalt, hinten sind es 70 Millimeter. Die Diffusorklappen bleiben geschlossen und der Anstellwinkel des Heckflügels ist minimiert. Auf diese Weise tendieren die Abtriebskräfte gegen null, um den Luftwiderstand des Bugatti zu verringern.
Überragende Fahrdynamik und hohe Verzögerungswerte gehören für die Bugatti Ingenieure untrennbar zusammen. Deshalb verfügt der Bugatti Veyron über eine im Automobilbau einzigartige Carbon- Keramik-Hochleistungsbremsanlage. Sie wird durch die aerodynamische Bremsfunktion des Heckflügels ergänzt, die den hohen Luftwiderstand bei Geschwindigkeiten über 200 km/h nutzt, die sogenannte „Airbrake“. Aktiviert wird sie übers Bremspedal ausschließlich in der Handling-Konfiguration zwischen 200 und 375 km/h, wenn ein definierter Bremspedaldruck überschritten wird. In nur 0,4 Sekunden stellt sich der Heckflügel daraufhin mit 113 Grad zur Fahrtrichtung. Dadurch wächst der Luftwiderstand des Fahrzeugs. Zusätzlich steigt auch der Abtrieb allein überm Heck auf etwa 300 Kilo zugunsten höherer Bremsmomente an den Hinterreifen. Damit wird die bei starkem Verzögern Richtung Vorderwagen auftretende Radlastverlagerung reduziert.
Die Komplexität des Bugatti Veyron Aerodynamik-Managements stellt eine der größten Herausforderungen des Entwicklungsteams dar. Ihre Unfehlbarkeit gilt Bugatti-Präsident Dr. Thomas Bscher als oberstes Ziel: „Der Kunde wird sich auf die Bugatti-Technik verlassen können, wenn er das faszinierendste Automobil der Welt in fahrdynamische Grenzregionen jenseits heutiger Erfahrungswelten führt.“